Großbritannien: Handyauswertung von Geflüchteten war rechtswidrig
Das britische Innenministerium hätte nicht anordnen dürfen, dass Behörden Smartphones von Asylsuchenden beschlagnahmen und deren Daten auswerten. Diese Praxis habe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen, hat der High Court of Justice in der vergangenen Woche in London entschieden. Geklagt hatten drei Betroffene. Ihnen waren die Telefone abgenommen worden, als sie im Jahr 2020 nach einer Überquerung des Ärmelkanals Großbritannien erreicht hatten.
Zwischen April und November 2020 hatten Immigrationsbeamte Telefone von Asylsuchenden in Dover eingezogen und die Schutzsuchenden gezwungen, ihre PIN-Nummern preiszugeben. Einem Bericht der britischen Zeitung The Guardian zufolge wurden in diesem Zeitraum fast 2000 Mobiltelefone beschlagnahmt und Daten ausgelesen. Die Geräte wurden teils monatelang einbehalten.
Die Richter urteilten nun, die pauschale Beschlagnahmung der Telefone habe gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) der Betroffenen verstoßen. Einen weiteren Eingriff in dieses Recht sah das Gericht, weil den Geflüchteten mit Strafverfolgung gedroht wurde, sollten sie ihre PIN zum Zugriff auf die Geräte nicht herausgeben.
Keine Rechtsgrundlage
Das Innenministerium hatte das Vorgehen auf Paragraf 48 des britischen Einwanderungsgesetzes von 2016 gestützt. Dieser sei aber keine gültige Rechtsgrundlage, stellte das Gericht fest. Die Regelung erlaube nur, Räumlichkeiten zu durchsuchen und dabei gefundene Gegenstände zu beschlagnahmen. Die Durchsuchung von Personen könne nicht daraus abgeleitet werden – sie müsse vielmehr klar und eindeutig durch das Gesetz erlaubt werden. Es sei Sache des Parlaments, bei Bedarf eine entsprechende Rechtsvorschrift zu erlassen. Die Exekutive dürfe sich aber nicht auf Grundlage einer unzulässigen Auslegung bestehender Vorschriften Befugnisse anmaßen.
Die britische Organisation Privacy International, die in dem Verfahren angehört wurde, begrüßte das Urteil. Lucie Audibert, Anwältin bei Privacy International, kommentierte: “Es ist offensichtlich, dass das Innenministerium der Ansicht war, dass Asylbewerber, die an den Küsten des Vereinigten Königreichs ankommen, nicht das gleiche Recht auf Privatsphäre haben wie andere Menschen – es hat sich schamlos rechtswidrige Befugnisse eingeräumt, um systematisch ihre Telefone zu beschlagnahmen und zu durchsuchen, selbst wenn sie keiner Straftat verdächtigt wurden. Dies steht im Einklang mit den Bestrebungen dieser Regierung, Migration zu kriminalisieren und Migranten ihrer grundlegenden Menschenrechte zu berauben.”
Nach Angaben des Guardian hatten Beamte persönliche Informationen wie E-Mails, Fotos und Videos von den Telefonen kopiert. Wie Privacy International berichtet, wurden diese nach Beweisen für kriminelle Aktivitäten durchsucht und auch in Datenbanken der Strafverfolgungsbehörden gespeichert. Das Innenministerium hatte argumentiert, Beamte könnten so Hinweise auf kriminelle Schleuser finden.
Telefone monatelang einbehalten
In der Verhandlung im Januar hatte der Anwalt eines Klägers geschildert, Betroffene hätten nach der Beschlagnahmung ihrer Telefone eine Quittung ausgestellt bekommen. Darauf sei eine Telefonnummer angegeben gewesen, die sie anrufen sollten, um ihre Geräte zurückzuerhalten – unter der Nummer sei jedoch niemand erreichbar gewesen. Viele Menschen hätten monatelang auf die Rückgabe ihrer Geräte warten müssen.
Smartphones haben für Geflüchtete häufig einen besonderen Stellenwert, weil sie darüber mit Angehörigen in Kontakt bleiben und sich auf ihrer Flucht orientieren können. Privacy International mahnt, die Beschlagnahmung der Geräte sei für die Betroffenen eine erhebliche Belastung. Ohne sie stünden die Geflüchteten ohne Kommunikationsmittel da und ihnen würden beispielsweise Erinnerungsfotos genommen. Außerdem gelangten die Behörden an eine Vielzahl persönlicher Daten, die für ihre Ermittlungen irrelevant seien.
Der Anwalt sagte in der Verhandlung, sein Mandant habe den Kontakt zu seiner Frau und seinem Kind verloren, weil ihm sein Telefon weggenommen wurde und er auch die darin gespeicherten Telefonnummern nicht mehr hatte. “Er wusste nicht, ob sie noch lebten oder tot waren.”
Datenschutzbehörde prüft ebenfalls
Nicht entschieden hat das Gericht in der Frage, ob die Datenextraktion auch gegen Datenschutzgesetze verstoßen hat. Denn das Innenministerium hatte sich im Laufe des Verfahrens mit dieser Frage an die britische Datenschutzbehörde gewandt. Diese prüft den Fall nun. Privacy International teilte mit, aus ihrer Sicht sei in vielerlei Hinsicht gegen den Datenschutz verstoßen worden. Man hoffe nun, dass die Datenschutzbehörde entsprechend entscheiden werde.
Das Gericht erklärte außerdem, das Innenministerium habe zunächst nicht zugegeben, dass die Anordnung zur Beschlagnahmung der Telefone existiert hat. Ob das Ministerium damit gegen seine Pflichten verstoßen hat, soll in einer weiteren Anhörung entschieden werden.
Privacy International kritisiert darüber hinaus, dass Telefone auch nach dem Jahr 2020 weiter beschlagnahmt wurden – wenngleich in geringerer Anzahl. Nach Angaben der Organisation soll ein geplantes Polizeigesetz den Einwanderungsbehörden erlauben, Mobiltelefone zu durchsuchen, wenn die Betroffenen zustimmen. Die Organisation argumentiert, aufgrund der Machtungleichheit zwischen dem Staat und Migranten sei es fraglich, ob die Zustimmung wirklich freiwillig erfolgen könne. Es müsse daher immer einen richterlichen Beschluss geben.
BAMF wertet Handydaten aus
In Deutschland darf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seit 2017 Datenträger von Asylantragstellern auslesen, wenn diese sich bei der Behörde nicht mit einem Pass oder einem anderen Dokument ausweisen können. Das Asylgesetz verpflichtet Antragsteller, ihre Datenträger inklusive der Zugangsdaten an die Behörde auszuhändigen.
Das Verwaltungsgericht Berlin hatte im Juni 2021 im Fall einer Geflüchteten entschieden, dass die Auswertung ihres Handys durch das BAMF rechtswidrig war. Dies sei zur Feststellung der Identität und Herkunft nicht erforderlich gewesen. Entschieden hatte das Gericht nur den Einzelfall. Doch die Gesellschaft für Freiheitsrechte, die gemeinsam mit der Betroffenen geklagt hatte, wertete das Urteil als “bedeutenden Erfolg für die Privatsphäre geflüchteter Menschen”. Ähnliche Verfahren sind noch an den Verwaltungsgerichten Hannover und Stuttgart anhängig. (js)